"Einige kritische Bemerkungen zum Wohnungsbau"

von Prof. Hermann Henselmann

in: Deutsche Architektur 2 / 1952

Wo bleiben die reichen künstlerischen Traditionen Dresdens?

(...), daß selbst bei befriedigender Grundrißlösung der Gebäude, selbst bei guter Anordnung der Räume, die Vernachlässigung der künstlerischen Gestaltung und Detaillierung, die Mißachtung der harmonischen Einfügung der Gebäude in das Landschaftsbild den Wert der Wohnbauten wesentlich beinträchtigen.
Betrachtet man die Wohnungsbauten unserer Republik von dieser Seite her, wieweit sie dazu beitragen, das Leben der Industriearbeiter und der technischen Intelligenz in den Werken reicher zu machen und mit der landschaftlichen Umgebung ihres Arbeitsplatzes zu verbinden, dann muß man feststellen, daß diese Seite unserer Aufgaben bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Ebenso muß man sagen: die Bauten des Sonderprogramms haben noch nicht solche Formen angenommen, daß der Dresdner oder Chemnitzer das Gefühl hat, hier entstehen Neubauten im Zentrum seiner Stadt, die ihn auf eine vertraute Weise ansprechen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Dresdner Wohnungsneubauten in der Grunaer Straße eingehen. Wenn wir die Grundrisse der ausgeführten Gebäude betrachten, so entsteht zweifelos der Eindruck einer einwandfreien Lösung. Die Anordung der Räume, ihre Größe, das Verhältnis von Nutzfläche zur Wohnfläche kann meines Erachtens, unseren gegenwärtigen materiellen Möglichkeiten entsprechend, als befriedigend betrachtet werden. Wie steht es aber mit der künstlerischen Gestaltung? Wir wissen, daß Dresden eine der kostbarsten Perlen unter den schönen deutschen Städten war. Vor den Dresdner Architekten steht und stand die Aufgabe, die edlen Traditionen dieser Stadt mit den großen Ideen unserer Zeit zu verschmelzen und sie in künstlerisch und gesellschaftlich wertvollen Bauwerken zu verkörpern. Niemand wird daran zweifeln, daß sich unsere Kollegen in Dresden darüber Gedanken gemacht haben, auf welche Weise sie die Eigenarten dieser ehemals so schönen Stadt zu neuem Leben erwecken können. Dipl.-Ing. Bernhard Klemm, der die Bauten an der Grunaer Straße entworfen hat, veröffentlicht in Heft 6 der Zeitschrift "Planen und Bauen" einen ausführlichen Artikel über diese Bemühungen. Er vertritt dort die Auffassung, daß infolge der festgelegten Geschoßhöhen von 3 Metern die typische Dresdner Fensterform mit ihrer ausgeprägten Höhenbetonung nicht angewendet werden konnte. Dipl.-Ing. Klemm schreibt über diese Frage folgendes:
"Dresden war die Stadt des Barock. Seine typischen Wohnhäuser standen in engen Straßen auf schmalen und sehr tiefen Grundstücken. Die Forderung nach traditionellem Bauen konnte nun nicht so verstanden werden, daß Motive, die durch diese Gegebenheiten bedingt waren, bedenkenlos übernommen werden. So konnte beispielsweise das für jene Barockhäuser typische Fensterformat mit einem Verhältnis von Breite zu Höhe wie etwa 1:2 nicht wieder verwendet werden, weil in den alten Häusern die Geschosse höher als 3 Meter waren."
Dipl.-Ing. Klemm weist im folgenden darauf hin, daß er versucht habe, gewisse Anklänge an Dresdner Bautraditionen durch Anwendung von sogenannten gekoppelten Türfenstern zu erreichen. Leider widmet er diesen Fragen in seinem Artikel nur einen sehr geringen Raum, und es bleibt offen, ob diesen gestalterischen Problemen jene wissenschaftliche Sorgfalt gewidmet wurde, die sie verlangen. Eine Gegenüberstellung von Dresdner Fenster mit Fenster vom Wohnblock Grunaer Straße kann vielleicht als Anregung dienen, die Frage näher zu untersuchen. Sehr aufschlußreich ist die Bemerkung, daß man auf maches bereits Geplante, wie auf reichen bildnerischen Schmuck und kunstgeschmiedete Gitter, bei der Ausführung aus "naheliegenden Gründen" leider verzichtet werden mußte. Welche sind diese "nahegelegenen Gründe"? Wahrscheinlich sind mangelnde Mittel gemeint. Aber wo sind die zwei Prozent der Investitionssumme geblieben, welche die Regierung ausdrücklich bei unseren hervorragendsten Bauten für bildkünstlerischen Schmuck vorschreibt?
Wenn man immer wieder bei unseren Bauten die Realisierung dieser Regierungsverordnung hintertreibt, dann schlägt man damit den Architekten und auch den Bildhauern eine Gestaltungsmöglichkeit aus der Hand, die ihnen die Regierung ausdrücklich zugebilligt hat. Ein solches Vorgehen ist meiner Meinung nach ungesetzlich. Es müßte ein Anliegen gerade der Dresdner demokratischen Organe sein, mit dem Oberbürgermeister an der Spitze die Pflege und Entwicklung der reichen Dresdner künstlerischen Traditionen zu verlangen.
In Dresden leben namhafte, in ganz Deutschland bekannte Künstler, Bildhauer, wie Maler. Diese Stadt hat ausgezeichnete Handwerker, wie zum Beispiel bekannte Kunstschmiede. Diese Menschen haben ein Anrecht darauf, ihre schöpferischen Kräfte bei der Gestaltung der Bauten in ihrem Stadtzentrum zur Entfaltung zu bringen. Es ist zu fragen, ob der Dresdner Stadtbaurat angesichts der großen Bedeutung des Aufbaus dieser Stadt seinen Aufgaben gewachsen ist. Wir müssen verlangen, daß eine Persönlichkeit für die Planung Dresdens verantwortlich gemacht wird, die vor allem in künstlerischer Beziehung das Vertrauen der Dresdner Bürger verdient. Man muß bedenken, daß unter den Männern, die für die architektonische Gestaltung Dresdens verantwortlich waren, sich stets die besten Namen der deutschen Architekten befunden haben.
Ebenso kann ich es nicht verstehen, daß die Dresdner Architekten, Bildhauer und Maler es sich gefallen lassen, wenn Bauten errichtet werden, die nicht ihren Ansprüchen genügen. Ich möchte die Kollegen fragen, ob sie in der Entfaltung ihrer Kritik auf irgendeine Weise behindert werden.

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Prof. Hermann Henselmann (1905- 1995)

Tischler, Raumgestalter, später Architekt

1945- 1951 Direktor und Professor an der Staatlichen Hochschule für Bauwesen Weimar
1951- 1953 Mitglied der Deutschen Bauakademie, Leiter einer der drei Meisterwerkstätten, Direktor des Instituts für Theorie und Geschichte der Architektur

1953 1959 - Chefarchitekt von Ostberlin
Chefarchitekt der Berliner "Stalinallee" mit Wohnbebauung und Läden Berlin-Friedrichshain; ab 1952

1961- 1964 Haus des Lehrers und Kongresshalle, Berlin, Alexanderplatz

1966- 1970 Chefarchitekt des Instituts für Städtebau und Architektur der Bauakademie

1968. 1970 Leninplatz, Berlin Friedrichshain

Universitätshochhaus Jena; 1970-1973
Universität (u.a. Hochhaus) Leipzig; 1968-1975
Mitarbeit: Fernsehturm (Alexanderplatz) Berlin-Mitte; 1965-1972

siehe auch: www.architekten-portrait.de/hermann_henselmann/