"Wohnzelle" Grunaer Straße (ehem. Pirnaische Vorstadt)
Grüne Stadtlandschaft oder urbane Großstadt - ein Kompromiss

 
Architekt:   Bernhard Klemm & Kollektiv, W. Hänsch
Planungsgrundlagen 1949- 50: Oberbaurat
Kurt W. Leucht +
Gartenarchitekt Hans Bronder

Berufsschulzentrum: Gottfried Klingner (VEB Projektierung - Sachsen) + Walter Henn (TH)
Bauzeit:   1951-55     (polytechn. Oberschule 1959-60)
Adresse:   ehemalige Pirnaische Vorstadt:
Grunaerstraße, Zirkus-, Mathilden-, Seidnitzer-, Blochmannstraße
Denkmal-schutz:   seit 1990


Die "Wohnzelle" Grunaer Straße, ein völlig neues Stadt-quartier, ist städtebaulich einerseits nach den Grundsätzen der aufgelockerten, durchgrünten Stadt der Moderne entworfen. Diese Grundprinzipien waren bereits in den späten 20er Jahren durch die europäischen CIAM-Kongresse detailliert konzipiert und in Deutschland auch in den neuen Wohnsiedlungen während der 30er Jahre angewendet worden. Vorläufer war die Reformbewegung der "Gartenstadt" um 1900. Große weite grüne Innenhöfe, Vorgärten und reichlich Straßengrün sollten mitten in der Stadt für eine gesunde hygienische Atmosphäre sorgen.
Andererseits spielten Überlegungen der kompakt- dichten, urbanen europäischen Stadt eine Rolle. Die Stadtquartiere sollten doch deutlich einen repräsentativen Großstadt-charakter haben mit Betonung und Akzentuierung von Hauptplätzen und -straßen. Dieser Spagat zwischen grünem "Gartenstadt"-Konzept und großstädtischer Zentrumsplanung kulminierte an diesem Pilotbauprojekt in der Pirnaischen Vorstadt. Kurt Leuchts Begriff vom Stadtlandschaftsraum kommt hier zum Tragen. Allerdings hieß es in den politischen Zielsetzungen auch:

"Die Stadt in einen Garten zu verwandeln, ist unmöglich. Selbstverständlich muß für ausreichende Begrünung gesorgt werden. Aber der Grundsatz ist nicht umzustoßen: in der Stadt lebt man städtischer; am Stadtrand oder außerhalb der Stadt lebt man ländlicher." (Zitat aus "16 Grundsätze des Städtebaus" von 1950)

Bebauungsplan Pirnaische Vorstadt mit jeder Menge großzügiger Grüngestaltung entlang der Straßen und in den aufgelockerten Wohnquartieren. Plan aus: Hans Bronder, Die Grünflächen beim Aufbau der Stadt Dresden, in: Deutsche Gartenarchitektur, Zeitschrift, Ost-Berlin 1 (1960), S.3-12
Das Komplexzentrum mit Gaststätte, Läden und Handwerkereinrichtungen etc. (A) - ähnlich gestaltet wie die Webergasse - wurde nicht umgesetzt.


Die erste "Wohnzelle" Dresdens nach 1945, konzipiert für ca. 5000 Menschen, war jedoch kein Resultat einer spontanen Bebauung irgendwo, sondern bildete einen organischen Teil einer umfassenden Gesamtkonzeption für ganz Dresden bzw. den Grossraum Dresden und die gesamte Region des Elbkessels von 1949/ 1950. Diese weitgreifende Planung behandelte Dresden, trotz Gründung zweier getrennter deutscher Staaten, immer noch als Hauptstadt eines Landes Sachsen. Bereits 1952 jedoch wurden die Länder in der SBZ einer Verwaltungsreform unterzogen und in "Bezirke" unterteilt.

45% Grünanteil

Die Neuordnung der Dresdner Innenstadt nach 1945 stufte die  "Pirnaische Vorstadt" zugehörig zum "Zentralen Bezirk" (heute ca. "26er" Ring) ein. Dieser wäre um das "Zentrum" gelagert und sollte vorwiegend einer innerstädtische Bebauung aufweisen mit ausreichend Grünanlagen. Eine städtische Architektur, von großzügigen Grünräumen  durchzogen mit Sonne, Frischluft, mit parkartigen großen Wohnhöfen und Spielplätzen, ohne Gewerbelärm und Schmutz! All das ist hier fast schon in verschwenderischer Fülle umgesetzt worden - mit 45% Grünanteil !


Architektur, an Traditionen anknüpfend und doch neue Wege suchend

Die nach den Grundsätzen der hygienischen, neuen Stadt errichtete Architektur der ersten Dresdner Wohnzelle wird in die sogenannte "Nationale Tradition" eingestuft. Schräge, rotfarbene Ziegeldächer, Akzentuierungen in Werkstein, Erker und ockerfarbener Putz sorgten für Wiedererkennungseffekte im Vergleich zu Gebäuden vor der Zäsur 1945. Angestrebt war eine moderate Ähnlichkeit mit einer als dresdentypisch empfundenen Architektur, ohne die revolutionären Veränderungen einer radikal neuen Gesellschaftsordnung der "Arbeiter- und Bauernmacht" zu leugnen. Man könnte dieses ausbalancierte Gleichgewicht zwischen Umbruch und Kontinuität durchaus als erfolgreich beschreiben, wenn man den politisch-stalinistischen Terror dieser Zeit ausblendet.

Diese ersten neuen Nachkriegsgebäude erinnern, wie Jan von Havranek 2001 in "das neue dresden 1919 - 1949" beschreibt, sehr an die Neubauten in der Paul-Wolf-Ära Mitte der 1930er Jahre. Im 1. Bauabschnitt einer groß angelegten Alstadtsanierung wurde z.B. dieser Ersatzbau Marktstraße (ehemals Kleine und Große Frohngasse, heute Weiße Gasse) 1935-38 vom Hochbauamt der Stadt Dresden errichtet:


Foto: Adressbuch Dresden 1938 / Band 1, S.4

Auch der Städtebau knüpft an die Paul-Wolf-Zeit der 1930er Jahre an. Vergleicht man z.B. die angestrebte Wohndichte von 250 Einwohner je ha, so kommt diese Zahl sehr nah an die Planungen des Hochbauamtes unter Wolf heran. Z.B. sah man für das Wohnquartier südlich der Münchner Straße eine Dichte von 230 Ew/ ha vor. Schwarzplan 1935 (geplant 1931)
(Der nördliche Teil wurde leicht verändert realisiert, aus: Zentralblatt der Bauverwaltung Heft 2/1935, S.23)
Auch die Mischung von Blockrandbebauung und Zeilenbauten mit hohem Grünanteil ähnelt jener Zeit. Vgl. Luftbild heute

Bernhard Klemm's neue Wohnbauten oszillieren also zwischen Kontinuitätsbestreben, Traditionsbindung, verhaltener Sachlichkeit und maßvoller Moderne, die diesen Bauten auch den Vorwurf des "Formalismus" einbrachten. Hermann Henselmann kritisierte z.B. in der Zeitschrift Deutsche Architektur 2/1952 die mangelnde "Pflege und Entwicklung der reichen Dresdner künstlerischen Traditionen."- der gesamte Text.

Der Architekturhistoriker Ralf Koch wies in seiner 1999 erschienenen Dissertation über den Wiederaufbau in Leipzig und Dresden 1945- 55 darauf hin, dass in Dresden ab 1948 Wiederaufbauplanungen aus der NS-Zeit in die Konzeption einflossen:
"Konzept der Stadtlandschaft mit strenger Zellenordnung, wie es seit Beginn der vierziger Jahre von Planern analog dem Gliederungsmuster der NSDAP zur Vorbereitung des Wiederaufbaus nach Kriegsende entwickelt worden war."


Grunaer Strasse, Entwurfszeichnung 1951, Foto: SLUB


Der Architekturführer Dresden 1997 beschreibt die Bauten der Wohnzelle Grunaer Straße folgendermaßen:

Mit dem "Gesetz über den Aufbau der Städte in der DDR und der Hauptstadt Deutschlands, Berlin" und den "16 Grund-sätzen des Städtebaus" wurden Maßnahmen zur Planung und Gestaltung des Wohnungsbaues festgelegt. Im großflächig enttrümmerten Gebiet der Pirnaischen Vorstadt wurde es möglich, eine in sich geschlossene Siedlungszelle, die von Grünflächen durchzogen ist, zu realisieren. Die fünfgeschossigen Häuser an der Nordseite der Grunaer Straße, noch in traditioneller Bauweise errichtet, stellen den Beginn des organisierten Neuaufbaus in Dresden dar. Sandstein-Putz-Fassaden, Erker, Loggien und Torbögen sind architektonische Elemente, in denen Dresdner Bautradition anklingen soll. Das EG der Häuser Grunaer Str. 23-29 ist zur Ladenzone ausgestaltet. Im Verlauf der 50er Jahre entstand im Karrée Mathilden-, Zirkus-, Seidnitz-, Grunaer Straße eine Blockrandbebauung mit Durchfahrtstraßen und Höfen. (aus: Architekturführer Dresden, 1997)


Blockrandbebauung?

Die hier beschriebene "Blockrandbebauung" ist für das Quartier der ersten Dresdner "Wohnzelle" eine irrtümliche Bezeichnung. Eine sehr differenzierte Bebauung mit freistehenden Einzelblöcken und ganz unterschiedlich breiten Abständen zur Straße mit zum Teil erheblichen Abstandsgrün läßt eher auf eine interessante Mischung von alt-europäischem Städtebau und neu-europäischen Stadtbaukonzepten des frühen 20. Jahrhunderts schließen.
Zum Vergleich die Situation vor 1945 in einem "Schadensplan der Stadt Dresden", bearbeitet 1945/ 46. Gut zu erkennen im markierten Gebiet: ein Teil der zu enttrümmernden gründerzeitlich-dichten Häuserblöcke mit Hinterhofbebauung ist gelb markiert.
Foto: SLUB Dresden


Keine Blockrandbebauung, sondern sehr viel Grünanteil bis zur Straße, Foto: April 2023 Thomas Kantschew, Vergrößerung


Städtebau: Verlängerung der Magistrale


Stadtmodell: Herbert Schneider, ca. 1953, Quelle: Deutsche Fotothek, Vergrößerung (blau markiert: Grunaer Straße)

Auf dem Höhepunkt stalinistischer Stadtplanung ließ Stadtarchitekt Herbert Schneider ein Stadtmodell bauen, welches gut demonstriert, wie die Magistrale durch die Altstadt (Thälmannstraße) nach Osten und Westen auf über 2,5 km verlängert werden sollte. So wäre ein monumentaler Magistralenraum entstanden vom "Fučíkplatz", über die Grunaer Straße, den Pirnaischen Platz, Altmarkt, Postplatz bis zur Ammonstraße (Eisenbahn). Ähnlich der Stalinallee in Ostberlin sollte eine eindrucksvoll politische Demonstrations-achse Macht demonstrieren.

In dieser Planung von Herbert Schneider war die Grunaer Straße ebenfalls eine herkömmliche "Korridorstraße", aber als Ausfallstraße sollte sie durchaus mit politischer Bedeutung aufgeladen werden. Gegenüber dem leicht zurück gesetzten Mittelteil war die Öffnung zu einem weiten, blockumspannenden Innenhof vorgesehen, in dessen Mitte zentral ein öffentliches Gebäude stehen sollte. Die beiden Einmündungen nach Norden, Zirkusstraße und Mathildenstraße, sollten im leichten Halbkreis Richtung Elbe schwingen. Nach Süden wären diese beiden Straßen nicht weiter geführt worden, sondern hätten dann durch imposante Tordurchgänge in gärtnerisch gestaltete Stadtplätze münden sollen. 1949 war die Planung von Kurt W. Leucht für das Gebiet südlich der Grunaer Straße noch als Erweiterung des Großen Gartens vorgesehen (siehe unten).


Abschluss zum Pirnaischen Platz


Das Wohngebiet an der Ausfallstraße Richtung Osten, entstanden ohne Wettbwerb in direkter Vergabe, blieb zum Pirnaischen Platz vorerst ohne Anbindung. Die gesamte Zentrumsplanung wurde noch vom Ringen um das Hochhaus am Altmarkt, ebenfalls von Herbert Schneider, in Anspruch genommen. In seiner Gesamtstadtplanung hätte es jedoch zum Pirnaischen Platz eine Torsituation gegeben, ähnlich wie in Ostberlin an der Stalinallee imposante Plätze beeindruck-en sollten (Frankfurter Tor oder Straußberger Platz ab 1952).

Noch vor Vollendung des Generalverkehrsplanes begann man 1963 schließlich mit dem Bau des 14-geschossigen Appartmenthochhauses, welches als städtebaulicher Abschluss der Magistrale gedacht war.


Ostdeutscher Städtebau der frühen 50er- Synthese & Transformation zwischen Moderne und Tradition

Fast zeitgleich entstand in der Südvorstadt die Siedlung an der Nürnberger Straße (1953-54) von Chefarchitekt Albert Patitz, seinem Kollektiv (und vor allem von einer entschlossenen Trümmerfrauen/ -männergeneration). Der Neuaufbau dieser ersten Wohnquartiere im ruinenberäumten Dresden basierte auf folgenden, grundsätzlichen Überlegungen zur künftigen Stadtentwicklung:


1950: Die Grundprinzipien für die Neuplanung Dresdens

1. Landeshauptstadt
Dresden ist die Hauptstadt des Landes Sachsen und der Sitz der Regierung eines Landes der Deutschen Demokratischen Republik. Dresden ist der zentrale Ort von 1,8 Millionen Einwohnern des Großraumes.

2. Arbeitsstadt
Dresden ist Arbeitsstadt mit einer mannigfaltigen Veredelungs- und Fertigwarenindustrie.

3. Kulturstadt
Dresden hat die besonderen Aufgaben einer Kunst- und Kulturstadt zu erfüllen. Die im Laufe der Geschichte entstandenen Traditionen und Gegebenheiten und die sich anbahnende kulturelle Entwicklung bilden hierfür die Grundlage.

4. Besiedlung der Wohnfläche
Unter Berücksichtigung der Bevölkerungsentwicklung ist für die Stadt Dresden eine Zahl von 500 000 Einwohnern innerhalb der jetzigen Stadtgrenzen zugrunde zu legen. (...) Das Verhältnis der Wohndichte EW/ ha Wohngrundstücksfläche (überbaute Wohnbaufläche, Hausgarten und Wohnwege) ist im allgemeinen mit höchst. 250 als Richtzahl angenommen worden.

5. Mensch
Die Erfüllung der Forderungen des werktätigen Menschen hinsichtlich des Wohnens, der Arbeit, der Kultur und Erholung ist das Ziel der Planung.

6. Wohnzelle
Eine funktionelle Ordnung der Wohnzellen wird herbeizu-
führen sein. Die kommunalpolitische und städtebauliche Ordnung der Stadt baut sich vom Wohnbezirk als kleinste Zelle bis zum Gesamtgefüge der Stadt organisch auf. Hierbei ist für den lebensfähigen Wohnbezirk die Richtzahl von 5000 bis 6000 Einwohnern zugrunde gelegt worden. (...)

7. Industrie
Die städtebauliche Einordnung von Industrie und Gewerbe wird sich mit dem Aufbau der Wirtschaft vollziehen, wobei Arbeitsstätten und Wohnquartiere planvoll einander zuge-
ordnet werden.

8. Zentrale Funktion
Der Stadtkern als zentraler Ort, d.h. als Mittelpunkt der zentralen Funktionen der Verwaltung, der Wirtschaft und der Kultur basiert nicht allein auf dem Stadtgebiet Dresden, sondern ebenso auf dem Großraum und auf dem Land Sachsen. Er wird für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung von weittragender Bedeutung, im besonderen ein Spiegelbild der künftigen Gesellschaft sein.

9. Verkehr
Die Neuordnung des Verkehrs richtet sich nach den Erfordernissen einer zukünftig anwachsenden Verkehrs-
entwicklung. Hierbei sind differenzierte Verkehrswege den jeweiligen Funktionen und Bedürfnissen entsprechend vorzusehen.

10. Grünflächen
Die Gestaltung des Stadtlandschaftsraumes baut sich auf einer biologisch gegründeten Grünflächenpolitik auf. Die Landeshauptstadt soll noch mehr als bisher in ihrer natürlichen landschaftlichen Lage der Stadt der Gärten, der Grünanlagen von Nutz- und Erholungsgrün, eine Stadt der Hygiene werden. Dabei bestimmen Bodeneigen- schaften und landschaftliche Gegebenheiten die Gestalt des Stadtlandschaftsraumes.

11. Grund und Boden
Der Neuaufbau kann bei einer grundlegenden Neuordnung des Grund- und Bodenwertes durchgeführt werden. Hierbei erfordert die künftige städtebauliche Ordnung die Bildung von Groß- und Sammelparzellen.

12. Baudenkmale
Erhaltenswerte Baudenkmale, Natur- und Landschafts-
schutzgebiete bilden einen festen Bestandteil der Neuplanung, soweit sie der Ausdruck einer vergangenen Kultur und Gegenstand des allgemeinen Interesses sind.

aus: Planungsgrundlagen, Planungsergebnisse. Für den Neuaufbau der Stadt Dresden. Bericht des Stadtplanungsamtes über die Ergebnisse der Untersuchung der strukturellen Grundlagen für die neue städtebauliche Ordnung der Landeshauptstadt Dresden, bearbeitet durch Oberbaurat Leucht, Gartenarchitekt Bronder und Dipl. Ing. Hunger, Dresden 1950.
(Dort auch umfangreiches Kartenmaterial zu: Dresden. Entwicklung der Innenstadt; Grünflächenplan; Grossraumplan etc.)

In diesen "Planungsgrundlagen" von Kurt W. Leucht und Hans Bronder, der ersten Arbeit über die Planung für den Wiederaufbau einer kriegszerstörten deutschen Stadt, 1949- 1950 verfasst, heißt es im Punkt 6:


"Wohnen":
"Die Entwicklung im 19. und am Anfang des 20. Jh. führte zu chaotischen Ballungen der Bebauung in den Städten, insbesondere in den Großstädten. Die Erkenntnis dieser Tatsache bildet die Grundlage für eine fortschrittliche Planung, nach der die für die einzelnen Zwecke genutzten Flächen ihren funktionellen Beziehungen entsprechend zu gliedern und planmäßig festzulegen sind. Theoretische Untersuchungen werden in zahlreichen schematischen Plänen fixiert. Es zeigte sich im weiteren, daß auch die für die Bebauung vorgesehenen Flächen als überschaubare und organische Gebilde gestaltet werden müssen, wie sie im natürlich gewachsenen Dorf und der mittelalterlichen Stadt erkennbar waren. (...)"
Zu den zentralen Einrichtungen sollte z.B. auch ein
"Zentraler Handwerkerbetrieb" gehören mit "Schneiderei, Schuhmacherei, Schlosserei, Schmiede, Klempnerei, Installationswerkstatt, Tischlerei, Malerei für den örtlichen Bedarf in Verbindung mit einem Kommunalhof für zenrales Gerät, Fahrbereitschaft". Diese Ideen konnten bei dem Komplex Grunaer Straße durch TH Prof. Klemm
(1916 - 1995) nur durch die Laden- und Servicezeile umgesetzt werden. Als Einkaufsstraße ist sie nicht konzipiert worden.

Weiter heißt es im Text: "Die Wohnungen sollen allen neuzeitlichen wohntechnischen und wirtschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen. Der Aufwand zur Unterhaltung und Pflege der Wohnungen muß besonders im Hinblick auf die werktätige Frau mit einem Minimum an Arbeit bewältigt werden können. (...)
Eine wichtige Rolle werden beim sozialen Wohnungsbau die in der Entwicklung befindlichen neuen Konstruktionen und Baumethoden spielen, und zwar hinsichtlich des Wohnens selbst, hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit - vor allem in bezug auf Unterhaltungskosten -, aber auch hinsichtlich der schnellen Beseitigung der Wohnungsnot. Die von fortschrittlichen Architekten der ganzen Welt seit Jahrzehnten erhobenen Forderungen müssen realisiert und die konservative Auffassung im Wohnungsbau überwunden
werden. Der Wohnwert wird ferner bestimmt durch richtige Orientierung der Wohnung zu Sonne, Freifläche und Landschaft, Verkehr und zentrale Funktionen.

Elastizität der City

(...) Wenn auch eine zukünftige Entwicklung vielfach eher auf ein Schrumpfen der City gegenüber den bisherigen Abmessungen als auf eine Erweiterung schließen läßt, ein Vorgang, der vor allem mit der Beschränkung der City auf ihre eigentlichen Funktionen zusammenhängt, soll doch eine hinreichende Elastizität gewährleistet sein.

Geminderter Flächenbedarf
1. Beschränkung der City auf spezifisch zentrale Funktionen des Landes, des Großraumes und der Stadt
2.
Gegenüber den etwa 94 000 ehemals im Zentrum Wohnenden sollen in Zukunft nur noch etwa 30 000 innerhalb der Innenstadt untergebracht werden.
3. Technische Vervollkommung des Nachrichtennetzes (Funk, Fernsehen, Fernschreiben, Telefon) sowie des Filmwesens werden zu einer Entlastung der City führen."


City ist überall?
Dieser Punkt 3 mutet heute reichlich modern an, denn für 1950 ist die futuristische Vorausschau einer ausgedehnten, sich potentiell dezentral entwickelnden Stadt des 21. Jahrhunderts, die vorrangig über elektronische Massenmedien kommuniziert, eine reichlich hellsichtige Analyse. Auch damals schien man also um das Spannungsverhältnis zwischen Kern und Peripherie zu ringen, nachdem avantgardistische Stadttheoretiker in den Jahrzehnten zuvor das Ende der "Alten Stadt" samt ihres zunehmend engen, luftlosen Stadtkerns verkündet hatten.


Zusatzfunktionen Grundschule und BSZ

Bereits 1952 komplettierte das neue Stadtquartier ein modernes, berufliches Schulungszentrum für Bau und Technik (BSZ) an der Günzstraße, welches auch ein interessantes Beispiel für die Formenvielfalt architekton-ischen Schaffens in den 50er Jahren in Ostdeutschland darstellt. Architekt war Gottfried Klingner vom VEB Projektierung - Sachsen. Ausführungsdetails kamen vom Entwurfsinstitut Prof. Dr. Ing. Walter Henn der Technischen Hochschule Dresden.
In das neue Stadtquartier wurde ab 1959 auch eine 10-klassige allgemeine polytechnische Oberschule integriert (siehe: Bilder rechts).

Die ersten Wohnhäuser in der leergeräumten  Innenstadt 1952, vom Rathausturm aufgenommen. Neubauten in der Pirnaischen Vorstadt 1959 Grunaer Straße 1955 Appartmenthaus von W. Hänsch 1955
Appartmenthaus Grunaer Strasse/ Blochmannstrasse, Architekt: W. Hänsch & Kollkektiv 1954 / 55

Torbogen eines Hofdurchganges 1952 Grunaer Straße: Ladenzeile mit von der Straße abschirmender Grünzone
Gehört diese Architektur in das Schubfach "Nationale Tradition"? Sachliche Wohnbauten von Prof. Bernhard Klemm


Wohnquartier, hier Seidnitzer Straße, Foto: 1957


Kurt Loose, Sandsteinplastik "Junge Pioniere", 1955, Grunaer Straße

Sandsteinrelief am
Appartmenthaus Grunaer Strasse 1954 (Aufn. Aug. 05)
Mai 2004 Wohnbauten - Mai 2004
Städtisch und doch im Grünen: Inzwischen sanierte Wohnbauten Grunaer Straße, Mai 2004

Trad. Bauweise, monumentale Moderne: Eckhaus zum Pirn. Platz von 1964-66, Foto: TK, Vergrößerung

Aufgelockerte Bauweise des Quartiers, April 2005 TK, Vergrößerung

Foto: Siegmar Baumgärtel
Überbauung Seidlitzer Straße mit Toreinfahrt. drei Fotos von S.Baumgärtel, 2005
Zurückhaltende Reminizensen an lokale Bautraditionen - Loggien mit Werkstein- akzentuierungen



Teil des Quartiers: Moderne Bauschule an der Günzstraße, 1952 / Unter der Traufkante ist ein Schriftband mit Agitation- und Propagandasprüchen erkennbar. Bemerkenswert ist die moderne Typographie. (Aufn. 2005)
Textbeginn: "Wo das arbeitende Volk ..."


Der Meister zeigt einem Bauschüler den Weg: Bronzekunstwerk im Agit-Prop-Stil

Detail einer Hauswand an der Zirkusstraße
Detail einer Hauswand an der Zirkusstraße



"Entwicklungsplan Innenstadt"


Entwicklungsplan Innenstadt     (
Vergrößerung)
vom Rat der Stadt Dresden (Stadtplanungsamt) - Oktober 1949.
(Literaturquellenangabe: siehe oben "Planungsgrundlagen ...")

Träume von Gestern: Eine neue Stadt -
planvoll, geordnet, ohne Chaos der freien kapitalistischen Welt

Vom Kreisverkehr Pirnaischer Platz sollten nördlich der Grunaer Straße die neuen Wohnzellen errichtet werden (rot gekennzeichnet). Südlich davon (grün) war die gesamte Fläche des heutigen Robotrongeländes für "Ausstellung/ Sportanlagen" reserviert. Westlich des neuen Stadtquartieres zur Petersburger Straße sind - mit reichlich Abstandsgrün - Flächen für "Verwaltung / Hotels" vorgesehen. Statt Funktionsmischung - strikte Funktionstrennung.

Die nördlich der Wilsdruffer Straße ausgewiesene Fläche zwischen Albertinum und Johanneum wird in diesem Plan (dunkelgrün) mit "Kulturbauten" gekennzeichnet. Lediglich 15 % dieses Viertels sollten überbaut werden. Westlich vom Altmarkt (rot gekreuzt): "Geschäftshäuser", südlich und östlich "Verwaltung / Hotels". Schwarz bezeichent sind die "in die Planung einzubeziehenden Gebäude" (darunter nicht: Schloß, Taschenbergpalais, Frauenkirche).
Eine neue Straße führt vom Theaterplatz zur Schießgasse.
Die Prager Straße, ganz von "Läden" gesäumt, hat noch eine moderate Breite. Drumherum vom Ring bis zum Hauptbahnhof "Verwaltung / Hotels"
So "einfach" kann Stadt sein! Im angebrochenen neuen 21. Jahrhundert wissen wir durch bittere Erfahrung geläuterten aufgeklärten Bürger, dass "Stadt" so einfach nicht funktioniert.

Dresden Grünflächenplan

Die Wohnzelle Grunaer Straße (wie natürlich die gesamte City) sollte direkt von einer sehr großzügigen Grünfläche mit Frischluft versorgt werden, die nebenbei genügend Erholungs- und Sportzonen anbieten sollte. Dieses großzügige innerstädtische Grün-Gebiet war von der Petersburger Straße bis Bürgerwiese und Großer Garten vorgesehen.



Die Vergrößerung zeigt das weitsichtige Konzept: im Süden sorgt ein ganzer "Obstbaumgürtel" (grün gepunktet) für die Lieferung regionaler Lebensmittel. Eine Vielzahl roter Punkte kennzeichnet die "Aussichtspunkte" und macht auf die zu schützende Landschaft des gesamten Elbtals aufmerksam (eine Vorwegnahme des Unesco-Beschlusses)
Hellgrün: "Gärtnerland", Dunkelgrün "Forstwirtschaftliche Flächen", Ocker "Landwirtschaftliche Flächen".

Straßen: Es wurde unterteilt in: Autobahn, Hauptverkehrsstraßen (dick) und Durchgangsstraßen (dünn). Die damals bereits konzipierte Waldschlösschenbrücke wird als untergeordnete Durchgangsstraße eingestuft.

(Für den überregionalen, gesamteuropäischen Transit-Verkehr hätte es neben der geplanten Autobahn nach Prag eine dritte, die Heide weiträumig umführende Trasse gegeben, die ein großes Autobahndreieck gebildet hätte (gestrichelt dargestellt) - siehe "Grossraumplan Dresden".
Grün gestreift sind in diesem umfassenden, die Region als Ganzes entwickelnden Plan "Geplante Aufforstungen" dargestellt. Die Waldschlösschenbrücke hätte in dieser Planung im überregionalen Transitverkehr keine Rolle gespielt.


Literatur:

Zu Kurt W. Leucht, der Verfasser der Dresdner "Planungsgrundlagen", der "16 Grundsätze des Städtebaus", Masterplaner für die "Erste sozialistische Stadt Deutschlands" Eisenhüttenstadt und ehemaliger NS-Architekt siehe den Text zur Ausstellung des DHM Berlin
"Aufbau West. Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit" 1997

Bernhard Sterra „Die Stuttgarter Schule in Dresden“ in den Jahren 1930 bis 1950. Bernhard Klemm z.B. arbeitete in der Nachkriegszeit Sanierungs- und Wiederaufbaupläne unter anderem für Dresden aus. Näheres zu einer Tagung zu "Neue Tradition – Konzepte einer antimodernen Moderne in Deutschland von 1920 bis 1960" am 05.10.2007 in Dresden an der TU Dresden. Zum schwierigen Verhältnis von Moderne und Tradition in der Architektur. Link zu Hsozkult

Ralf Koch: Leipzig und Dresden: Städte des Wiederaufbaus in Sachsen. Stadtplanung, Architektur, Architekten 1945- 1955. Diss. Uni Leipzig 1999

Hans Bronder: Großgrüngestaltung und Städtebau, Deutscher Bauernverlag (Berlin Ost) 1954
Allumfassendes Standardwerk in Ostdeutschland in den 1950er Jahren.

Hans (auch Johannes) Bronder (1904 - 1985)
arbeitete vielseitig als Stadtplaner, Gartenarchitekt und  Fotograf. Bronder war in den 1950er Jahren Leiter des Stadtplanungsamtes Dresden (zuerst als Unterstützung von Kurt W. Leucht, später vollständig). In dieser Funktion spielte er eine zentrale Rolle in den Zentrumsplanungen in Dresden, u.a. in der Jury zum Altmarkt-Wettbewerb 1952. Mit Leucht erarbeitete er die Planungsgrundlagen für Dresden 1949-50.

 


Neubau einer polytechnischen Oberschule, Zirkusstraße, 1959-1960 Aufnahme 1960 Aufnahme 1990