UFA- Kino "Kristallpalast"
dekonstruktivistisch - expressiv - skulptural

 

Architekt: Coop Himmelb(l)au
               (Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky)
Bauzeit: _1996-98
Adresse:
. Petersburger Straße


Ein Solitär als verkörperter Individualismus

"In klarer, geometrischer Ordnung bilden die schlanken Scheibenhochhäuser an der Prager Straße in Dresden ein städtebauliches Ensemble, das mit dem Hauptbahnhof im Süden und dem Übergang zum Altmarkt im Norden ein typisches Ergebnis der Stadtplanung der 60er Jahre ist. Diesem Ensemble wurde mit dem Kinozentrum ein weiteres Element hinzugefügt, das einen neuen öffentlichen Raum östlich der Prager Straße definiert und damit zugleich die Querbezüge zur großen Achse verstärkt. Zur Belebung dieses neu gewonnenen urbanen Raumes werden sämtliche Zugänge zum komprimierten "Kinoblock" als öffentliches Ereignis inszeniert. Das weite Foyer, die skulputral ausgeformten Treppenanlangen, die in einen Drahtkegel eingehängte Bar und zusätzliche Servicefunktionen werden weithin sichtbar in den öffentlichen Raum eingestellt und von einer kristallinen Stahl-Glaskonstruktion umfasst, die diesem neuen Treffpunkt inmitten der Stadt ein einprägsames Zeichen mit weiter Ausstrahlung gibt.
In bewegtem Kontrast zu den sonst zumeist monofunktional konzipierten und im Gefüge der Stadt hermetisch abge- schlossenen Baukörpern solcher Unterhaltungsmaschinen wird hier dem Publikum eine vielfältig bespielbare Bühne gegeben, auf der sich vor allem die jüngere Generation
spielerisch darstellen kann. Durch die Sichtbarkeit der Bewegungen und Interaktionen im - zumal abends hell erleuchteten "Kristall" wird der transparente Baukörper selbst gleichsam zu einem Medium der Öffentlichkeit, daß für die Wiedergewinnung von Urbanität in unseren Städten einen beispielhaften Beitrag leisten kann.

In der expressiven Formensprache kommt gegenüber der strikten Geometrie der Umgebung eine fast anarchisch anmutende Vitaliät zum Ausdruck, die gerade in dieser Gelenksituation zwischen Altstadt und Nachkriegsmoderne einen bemerkenswerten, zukunftsweisenden Akzent von hoher gestalterischer Qualität setzt."

(Text aus der Laudatio zur Verleihung des D
eutschen Architekturpreises 1999)


Zur Straße den Rücken, zur Gasse die Schauseite

Diese einmalige, unverwechselbare Gebäudeskulptur hat durchaus eine vordere Schauseite und eine hintere Rückseite. Die Vorderfront mit dem offenen, gläsernen Foyer zeigt auf die namenlose Gasse zwischen Prager- und Petersburger Straße. Zur viel befahrenen Europa- Hauptstraße E 55 präsentiert das Kino eine verschlossene, schroffe Rückseite, also eher den "Rücken" als ein "Gesicht". In diesem Riegel befinden sich die eigentlichen Kinosäle. Schade, dass man der wichtigsten Verkehrsachse der Stadt so wenig gestalterische Beachtung schenkte.
Doch man nimmt sie im allgemeinen mehr als Transit- als einen Stadtraum wahr.
Der transparente Kristall im "vorderen" Bereich entwickelt durchaus, besonderes nachts, eine eigene Magie. Tagsüber tummeln sich lediglich ein paar verstreute Skater auf dem Vorplatz, ohne dass der öffentliche Raum eine tatsächlich einladende Ausstrahlung entwickelt. Der angestrebte urbane Eventcharakter wird nur schwer angenommen, was allerdings auch an der unfrequentierten Rückseite des Apartmenthauses, der menschenleeren Verkehrskreuzung "Georgplatz" und dem Weg ins Nichts zum geplanten Ferdinandplatz liegt. Die Stadt bleibt hier ein schmerzendes, zerrissenes Provisorium.

Antibürgerliche Attitüde

Aus der Nähe betrachtet sind die rohen Aluminium- gitterbleche als vor den nackten Beton gehängte "Fassade" und diese ruppige Ästhetik von Schroffheit und Härte für die alte Residenzstadt Dresden allerdings auch ziemlich starker Tobak. Auch in der postsozialistischen Landeshauptstadt lebt im 21. Jahrhundert eine bürgerliche Kultur mit einer gewissen Etikette fort.
Dennoch muss man dieses außergewöhnliche "unbürgerliche" Haus in seiner ganzen Komplexität betrachten: als eine aufs Spektakuläre zielende, Aufsehen erregende Skulptur, als ein dekonstruktivistisches Unikat mit archaischer Wucht. Träume der Teenager als Hauptzielgruppe der Blockbusterindustrie bekommen hier ein Gehäuse voller Abenteuer und Wildheit / allerdings mehr aus der Perspektive von Erwachsenen gedacht.
Im Inneren offenbart das hohe Glasfoyer seine ganz eigene Faszination von Raumeindrücken. Dies zirkulierende System von Treppen und Brücken ist eine der spannendsten Raumkompositionen der zeitgenössischen Gegenwarts- architektur Dresdens. Für die sich nach neuer Ordnung sehnenden Kids scheint die chaotisch anmutende Architektur jedoch zuweilen auch eine Überforderung.

Das Gebäude wirkt städtebauchlich erst durch die Folie des langen Appartmenthauses, dessen erwogener Abriss, der das Kristallkino plötzlich nackt, ohne "Hinterland" dastehen würde, zum Glück abgewehrt werden konnte. 2007 wurde es saniert.

In einem Interview der DNN vom 31.Juli 04 äußerte Prof. Wolf D. Prix, federführender Architekt beim Kristallpalast, daß nicht alle Ideen, die ursprünglich für die Nutzung des Kinos als öffentlicher Raum vorgesehen waren, umgesetzt werden konnten. Der Betreiber hätte die Chancen, die in diesem Gebäude steckten, nicht wahrnehmen können. Zum Beispiel waren die Blechgitter zur Petersburger Straße eigentlich als Medienfassade gedacht, an denen die Betreiber viel stärker und optisch eindrucksvoller Filmwerbung anbringen hätten können.

Das Kinosterben ist (vorerst) abgewendet.

Das Multiplex- Kristallkino mit Platz für 2600 Personen in 8 Kinosälen befand sich im Insolvenzverfahren. Das alte Rundkino, dessen Keller ebenfalls für sechs zusätzliche Säle umgebaut worden war, ist bereits nach der Flut 2002 von der UFA aufgegeben und stand lange (mit Ausnahme des Puppentheaters) leer. Nun ist darinnen ein anspruchsvolles 3D-Kino untergebracht.
Das Prix'sche Kritstallkino ist natürlich ein aufregender, interessanter Bau, ein herausragendes Beispiel des westeuropäischen Dekonstruktivismus der 90er. Trotzdem: es war ein stadtplanerischer Fehler, einer solchen konzentrierten Massierung von mehr als 4300 Kinoplätzen an einem Ort zuzustimmen. Auch in der höchsten Wachstumseuphorie Anfang der 90er Jahre hätte man ein Scheitern dieser Funktionsballung einkalkulieren müssen.

Menschen im Zentrum

Das neoexpressionistische Kristallkino ist zur Zeit das einzige Kino der Dresdner Innenstadt vom Albertplatz bis zur TU im Süden. Nur zum Vergleich: in der überschaubaren Altstadt vor 1945 gab es ca. ein Dutzend Kinos, darunter die großen Lichtspieltheater UFA-Palast, Zentrum Lichtspiele Seestraße von 1927-28, UFA Postplatz und die Scala. Drei separate Kinos existierten allein in der ehem. Prager Straße: das Capitol, das Universum und das Prinzeß. Im neuen 21. Jahrhundert, welches das Massenmedium Film (durch TV, Video, Streaming, Handy und Internet) immer mehr vom kollektiven Sehen in die Privatsphäre abdrängt, scheint jedoch eine Umkehr dieses Trends kaum noch möglich zu sein.
Volker Schlöndorff schlug Ende 2007 vor: die Kommunen sollten sich an Überlegungen zur kreativen Raumgestaltung neuer Kinos beteiligen, denn mit den neuen Medienzentren könnte das „Aussterben der Innenstädte“ verhindert werden. Als mögliche Lösung nannte er ein offenes Raumkonzept mit Interneträumen, Geschäften und Restaurants. In Kalifornien gebe es bereits solche Projekte.



Ufa-Palast bleibt Kino
Neuer Betreiber übernimmt die Geschäfte

Die Düsseldorfer FSF GmbH (geleitet von der Familie Riech) übernimmt nach den Ufa-Filmpalästen in Stuttgart, Berlin und Osnabrück nun auch das Filmtheater Kristallpalast in Dresden. Eigentümer und Vermieter ist der Medicofonds.
„Die langwierigen Verhandlungen mit dem Vermieter führten endlich zur Einigung – eine grundlegende Voraussetzung, um das Haus wirtschaftlich betreiben zu können“, sagt Dikomey. „Ab 1. Oktober 2004 ist die FSF dann offiziell neuer Betreiber.“

Homepage des Architekturbüros:
www.coophimmelblau.at


Schönheitskur für Kristallpalast vorgesehen

Der Kristallpalast war 1997/1998 nach Entwürfen des Wiener Architektenbüros Coop Himmelb(l)au (Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky) für umgerechnet rund 25 Millionen Euro unter Ufa-Regie gebaut worden. Die letztlich realisierte Architektur sei eher eine Spar-Variante gegenüber den ursprünglichen Entwürfen gewesen, erläuterte Objektleiterin Silke Dikomey. Eigentlich sei geplant gewesen, in einen dreieckigen kristallinen Baukörper zwei Quader als Kinosäle zu hängen, die über eine langgewundene Spiraltreppe zugänglich gewesen wären. Auch seien beleuchtete Fußböden vorgesehen gewesen. Diese Ideen seien aber zu teuer und zu unpraktisch gewesen. mehr: DNN vom 12.01.05


Mängel verbessern

Vielleicht kann bei dieser Gelegenheit die etwas verwirrende Ordnung durch klarere Markierung der einzelnen Säle + Etagen und somit eine benutzerfreundlichere Orientierung erreicht werden. Zudem täte eine zusätzliche Schallisolierung an den Wänden zwischen den einzelnen Sälen gut, da störende Nebengeräusche vom Nachbarkino den Hörgenuß stark reduzieren.

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Baubeschreibung von www.baunetz.de (Jan. 07):

Das Kino in der Prager Straße in Dresden ist eines der ersten größeren realisierten Bauten des Büros Coop Himmelb(l)au der Wiener Architekten Helmut Swiczinsky und Wolf D. Prix dar. Deren konzeptionelle und provokante Architekturvorstellungen wurden Ende der neunziger Jahre erstmals mit hohem digitalem und bautechnischem Aufwand realisiert.

Das Kino wurde in Form eines verzogenen, spitzwinkligen, zerfließenden Glaskristalls errichtet. Als Standort wählte der Bauherr eine Baulücke zwischen der Verkehrsschneise der St. Petersburger Straße und der Prager Straße in Dresdens Altstadt. Der neue Ufa-Palast liegt in unmittelbarer Nähe zum bestehenden, denkmalgeschützten „Rundkino“ (1970-72 erbaut vom Architektenkollektiv Gerhard Landgraf, Waltraud Heischkel), das mit seiner außergewöhnlichen Rotunde das bekannteste Kino Dresdens war.

Zur St. Petersburger Straße hin zeigt sich die rohe Betonstruktur des Neubaus mit einem Gitterrost verkleidet. Eingangsbereich und die gefaltete Glasfront sind zur Prager Straße hin orientiert. Im durch Sichtbeton und Stahl geprägten Innenraum herrscht überwiegend dekonstruierte Ruppigkeit; eine „Skybar“ schwebt als Attraktion unter dem Glashimmel.

Beton
Das Raumerlebnis lebt gleichermaßen von den ungewohnten Geometrien und der unorthodoxen Verwendung und Fügung der Materialen Stahl, Glas und Beton. Besonders eindrucksvoll sind dabei die haushohen Betonwände im Foyer. Der hellgraue Beton weist eine sehr glatte Oberfläche auf.

Konstruktiv lässt sich das Kino in zwei unterschiedliche Bereiche aufteilen: den Saalkomplex und das Foyer. Der Saalkomplex ist als monolithisches Bauwerk mit großen Raumhöhen, Deckensprüngen und teilweise geneigten Wänden konstruiert. Das Foyer wird von einer Glas-Stahl-Konstruktion abgeschlossen und beinhaltet eine raumbildende Kaskade stählerner Treppenläufe sowie zwei eigenwillig geknickte Türme für die Aufzüge. Das Fugenbild der Betonoberflächen wurde von den Architekten vorgegeben.

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Zerrspiegel der Geschichte
Das waghalsige Wiener Architektenteam Coop Himmelb(l)au hat in einer Dresdner Betonwüste das eigenwilligste Kino Deutschlands gebaut. Von Susanne Beyer
DER SPIEGEL 12/1998


Kristallkino vom Dach des gegenüber liegenden Studentenwohnheims aus gesehen, Foto: Juli 2013 TK

Webtipps:
https://kino.isgv.de  (Dresdner Kinokultur mit interaktiver Karte zur Geschichte des Kinos in Dresden zwischen 1896 und 1949- leider nicht darüber hinaus)



Grundriss des Kristallkinos zwischen Prager und Petersburger Straße, Plan des Stadtplanungsamtes Dresden, Oktober 2003


Grundriss Kristall-Kino, Vergrößerung

Eingang Kino (Dez. 2011) mit sanierter Wohnzeile, Fotos: TK, Vergrößerung





Modell Kristallkino - gezeigt in der Ausstellung COOP HIMMELB(L)AU: 7+
(Aedes Galerie Berlin) , Fotos: TK 2013