Neue Bauwelt 1946, Heft 9

Brief aus Dresden

Von Otto Schubert,
Professor an der Technischen Hochschule Dresden

Dresden, 7. August 1946

Als Aufruf an alle, die sich zu tätiger Mitarbeit beim Wiederaufbau berufen fühlen, nicht etwa nur als Rechenschaftsbericht über das im ersten Jahr Geleistete, hat am 20. Juli der Präsident der Landesverwaltung Dr. h.c. Friedrichs, die Ausstellung "Das Neue Dresden" eröffnet. Das aus Schutt und Asche wieder erstehende Dresden ist ein neu wachsendes Leben, kein in sich vollendet abgeschlossenes Ergebnis vergangener Jahrhunderte. Wohl baut es sich auf historischen Grundlagen auf. Es ist aber bestimmt, der Zukunft zu dienen, und erhält daher aus den voraussichtlichen Bedürfnissen kommender Entwicklungen das Gesetz der Gestaltung. Niemand kann voraussagen, wie lange Zeit der Verwirklichung des unter Bürgermeister Weidauer so mutig begonnenen Werkes in Anspruch nehmen wird; welche Schwierigkeiten sich in einer Zeit tiefster Verarmung und fast völliger Vernichtung aller Produktionsmittel der Ausführung entgegenstürmen werden. Unbekannt sind auch Mittel und Wege, deren sich die Zukunft zur Erreichung der Ziele bedienen wird. Der Ausstellung sind keine festen Grenzen gezogen, um von der Allgemeinheit zweckdienliche Anregungen und Hinweise für das Allgemeinwohl zu erhalten. Jeder kann und soll sich zu dem äußern, was ihn besonders bewegt, und wozu ihn seine Berufskenntnisse befähigen. Die Vorschläge reichen daher von der Verbesserung der handwerklichen Arbeit und der Trümmerverwertung bis zu den letzten Möglichkeiten der Kulturfortbildung und Wertsteigerung. Als Aufforderung zu öffentlichen Aussprache über alle Fragen, die dem Leben wie dem Gesicht der neuen Stadt die entscheidenden Züge aufprägen werden, ist auf Erhaltung des alten, den Dresdnern von klein auf ans Herz gewachsenen Stadtbildes, wie es Alfred Winkler meisterhaft dargestellt hat. Denn alle Planungen führen durch neue Verbindungen den Verkehr am Stadtherzen vorbei. Damit entfällt die angeregte Zerteilung des Kernstücks der Stadt in vier Teile durch ein Kreuz von 55 m breiten Verkehrsbändern. Demgemäss leitet der von dem leider verstorbenen Stadtbaurat Herbert Conert in Fortführung früherer Pläne aufgestellte Bebauungsplan den Nord-Südverkehr durch die Christianstrasse über die Carolabrücke, den Ost-Westverkehr durch neue Diagonalverbindungen über die Ringstraße. Gegenüber den ersten grundlegenden Plänen zeigt das Modell der Altstadt durch Betonung der Blickpunkte einen wesentlichen Fortschritt in bezug auf die stadträumliche Gliederung der einzelnen Verkehrszüge, wobei die Teilweise Abminderung der Blickweiten dem Maßstab der historischen Kulturdenkmäler gerecht zu werden sucht. An der städtischen Planung ist vor allem die Verkehrsführung beachtlich. Unter Zuhilfenahme des Obus sind die vorhandenen oder geplanten, großen Längs- und Querverbindungen zu drei Verkehrsringen geschlossen, so dass eine gleichmäßige Durchflutung des ganzen Stadtkörpers gewährleistet ist. Voraussetzung dieser weitsichtigen Verkehrsregelung ist der Bau von drei weiteren Elbbrücken.

Das Prinzip der Raumgestaltung betont Otto Schubert, der Verfasser dieser Zeilen, noch stärker. Er bemisst die Breite der Verkehrszüge nur nach dem fließenden Verkehr, erweitert sie jedoch überall für den ruhenden Verkehr derart, dass sich das Straßensystem in einer Folge sich gegenseitig bedingender und steigernder Stadträume auflöst, deren Abmessungen durch Rücksichten auf die alten Kunstdenkmäler bestimmt werden. Eine verwandte, jedoch vom Grün gleichmäßig durchzogene und belebte Raumgliederung der Straßenzüge mit gelockerter Bauweise ergibt sich aus dem Vorschlag einer hinterlandlosen Geländererschließung, welche neben großen Ersparnissen für die Volkswirtschaft für alle Zeiten die Erhaltung der Gartenflächen gewährleistet. Der Durchgrünung des Stadtkörpers dient die unterschiedliche Gestaltung der saalartig geschlossenen, rings von Läden umgebenen Kaufstraßen, bzw. der wettergeschützten Landenstrassen und der seitlich nach dem Kern der Baublöcke geöffneten Verkehrsstraßen ohne Läden. Der Baumbestand der Höfe bestimmt hier die Erscheinung des gestaffelten Straßenbildes. All diese Gedanken haben natürlich eine grundlegende Änderung des Baugesetzes zur Voraussetzung. Die Fortführung der Verkehrszüge geht von den gleichen Erwägungen wie die vorgenannte Planung aus: Eine Verkehrszusammenfassung findet im Hauptbahnhof und seiner Umgebung statt. Entsprechend gestaltet, ist er berufen, den ganzen Nah- wie Fernverkehr unter dem gleichen Dache zu vereinen. Während diese beiden Planungen zur Bewältigung des Ost-Westverkehrs sich der breiten Ringstraße bedienen, führt ihn Otto Geiler südlicher, im Zuge der Ferdinand-Trompeter-Straße durch, wobei sich die Möglichkeit zu einer einschneidenden Neugestaltung des Stadtkörpers ergibt, die jedoch über die realen Bedürfnisse und Möglichkeiten hinaus greift. Zur Bewältigung des Nord-Südverkehrs schlägt er eine Verdoppelung der Augustusbrücke vor, um den über den Postplatz zum Hauptbahnhof und vor dem wesentlichen Vororten geleiteten Verkehrsstrom aufzunehmen.

Nach dem Vorschlage von le Corbusier will Hans Hopp den alten Stadtkern in mehrfachem Umkreis mit kreuzförmigen Hochhäusern umgeben, die rings in Grünanlagen gebettet sind. Hierbei würde wohl der Stadtkern erhalten, die berühmte Stadtsilhouette aber jeder Fernwirkung beraubt. Interessant sind auch die Raumlösungen der Prager Straße und der Zinsendorferstraße in dem von Otto Lachnit ausgestellten Modell; ebenso die vom Amt für Baulenkung (Heyne- Franke) vorgeschlagene Gestaltung des Böhnischplatzes und der Pfotenhauerstraße, welche das Kernstück im Wiederaufbau (Schilling u. Gräbner, Ragnar Hedlund u.a.) bedindlichen künftigen Johannstadt bilden sollen. Der Gabelung der Kesselsdorfer und Löbtauer Straße verleiht Carl Buchka durch geschickte Massengruppierung die städtebauliche Betonung des Geschäftszentrums am Eingang von Löbtau. Beachtlich sind auch M.R. Ritscher & F. Leuboldt Pläne für die Lenkung des Verkehrs vom Zelleschen Weg über Cotta zur Reichsautobahn.

Unter den Vorschlägen für Einzelheiten des Stadtkörpers ragt die von Oswin Hempel in Gemeinschaft mit Berthold & Neubert eingereichte Umgestaltung des Neumarktes zum Museumsplatz mit Konzerthalle und Musikhochschule hervor. Ein niedriger, der Frauenkirche vorgelagerter Gemeindesaal soll die ursprüngliche Größenwirkung der Kirche wiederherstellen, indem er die von Canaletto wiederholt im Bilde festgehaltenen Vorbedingungen der Entstehungszeit zu neuem Leben erweckt.

An die Zeit des Barocks erinnern auch die von W. Rauda und E. Lucas angeregte Umgestaltung der Oper- und der Theaterplatzumgebung. Sie wollen den Zwingerteich bis zur Elbe verlängern, so dass der Platz dem Durchgangsverkehr seitlich entrückt, aber gleichzeitig der kreuzungsfrei längs der Elbe geführte Zubringerverkehr zur Reichsautobahn unterbrochen würde. Vor der Oper wollen sie an Stelle des Hotel Bellevue als Platzabschluss ein langgestrecktes niedriges Konzerthaus errichten. Erwähnt sei auch ihre Umgestaltung des Stübelplatzes durch Errichtung eines Wohnhausblockes mit geschlossenem Innenhof.

Eberhard Neumann beschäftigt sich, gestützt auf eingehende Verkehrsuntersuchungen, mit der Lösung des Postplatzes, jenem gefahrvollen Verkehrsknoten, der dem Zwinger seitlich angefügt ist. Er hat zu allen Zeiten zu den schwierigsten Problemen der Stadt gehört, da sich in ihm acht Verkehrszüge schneiden. Die Erfordernisse der Gegenwart und die Rücksichten auf die Vergangenheit prallen hier so hart wie an keiner anderen Stelle der Stadt aufeinander. Otto Reinhardt strebt eine monumentale Umgestaltung des Sachsenplatzes an. Überdies weist er auf den für das zerstörte Stadtbild typischen Reichtum an schönen Erkern hin, die vom Erdgeschoss bis zum obersten Geschoss, ja teilweise zum Dach durchgreifend durch die gleichmäßigen, doch vielgestaltigen Reihen schmückender Vertikalen dem Dresdner Straßenbilde der Barockzeit das Gepräge verliehen. Im Gegensatz hierzu will Eduard Schuchardt die ganze Innenstadt in Glaseisenarchitektur neu erstehen lassen trotz des durch die Zeitumstände bedingten Mangels an Glas und Eisen, der uns voraussichtlich noch auf lange Jahre hinaus zwingen wird, andere Wege der Baugestaltung zu wählen.

Von Oswin Hempel gemeinsam mit Neubert für ein großstädtisches Hotel vorgelegte Studien und der Entwurf von Kurt Brückner für den Neustädter Ratskeller weisen auf den für die Wiederbelebung der Volkswirtschaft hinderlichen Mangel an Gast- und Übernachtungsräumen hin. Durch Zuhilfenahme von verschiedenen städtischen Bauten hofft man ihm zu begegnen. Hans Hartl zeigt verschiedene Innenraumgestaltungen solcher für Hotelzwecke bestimmter Bauten und beschäftigt sich außerdem mit der Wohnung der berufstätigen Frau, deren Miete je nach der Größe von 15 bis 50 M reicht.

Auf das Wohnungsproblem - um nur einige Beispiele aus der Fülle des Gebotenen herauszugreifen - lenken die allgemeine Aufmerksamkeit Arbeiten von Hellmut Breßler (Altersheim), Eberhard Naumann (Einezlzimmerlauben-ganghaus), Walter Jähnig & Siegfried Nagel (Ledigenhaus), K. & A. Schubert (Erholungsheim) und Herbert Linke, der eine Fülle von Einzelprojekten vom Kleinhaus bis zum pathetischen Kulturbau früheren Gepräges vorlegt. Unter den technischen Problemen der Zeit steht an erster Stelle die Beseitigung und Wiederverwendung des Bauschuttes, den W. Rauda im Hinterland der Baublöcke ablagern will, von der Erwägung ausgehend, dass im Stadtinnern das Erdgeschoss nur für Läden dient, deren Lagerräume zumeist nach den Höfen gelegen sind. Unter den Arbeiten für den Wiederaufbau und die Neuregelung des Verkehrs steht die Instandsetzung der zerstörten Elbbrücken an erster Stelle, die uns Kurt Beyer vorführt, während Willy Neuffer in Gemeinschaft mit Hans Freese verschiedene kühn gespannte Betonbauten neuartiger Konstruktion zeigt. Voraussetzung für die oben erwähnte Zusammenfassung des Nah- und Fernverkehrs unter einem Dach durch Umgestaltung des Hauptbahnhofes zum reinen Durchgangsbahnhofe ist die Umleitung des Verkehrs nach Klingenberg durch eine neue Linienführung über Reick, Kreischa, Dippoldiswalde, welche Hans Reingruber bearbeitet hat. Diese neue Verkehrsregelung ist durch die internationale Entwicklung der Eisenbahntechnik bedingt. Sie erschließt überdies weite, der Stadt im Süden vorgelagerte Gebiete dem Fernverkehr, wodurch ihr eine besondere Bedeutung für die künftige Entwicklung des Stadtkörpers zukommt.

Gleichermaßen Beachtung verdient der konstruktive Vorschlag von Walter Henn, das einstmals beherrschende Wahrzeichen von Dresden, die Kuppel der Frauenkirche, als doppelte Stahlbetonkuppel mit äußerer Sandsteininkrustration auszuführen, um den Baugrund von der übermäßigen, auf acht Punkte verteilten Kuppellast zu befreien. Da die äußere Sandsteinhülle fast unversehrt erhalten ist, könnte man so bei Wahrung der äußeren Erscheinung der Setzrissbildung begegnen, die seit den Tagen der Erbauung als warnendes Menetekel dieser genialsten Formschöpfung des Dresdner Barock verhaftet war (vgl. den nach dem Aufmaß von Otto Kießling gezeichneten, in Anlehnung an Paul Rößlers Ausmalung von Tedge farbig dargestellten Querschnitts). Ob und man der Wiederaufrichtung dieses in der Welt einzigartigen Kulturdenkmals nähertreten wird, mag dahingestellt bleiben. Für die Wiederbelebung der Volkswirtschaft zur Zeit notwendiger ist die Schaffung von Wohnraum und Übernachtungsmöglichkeiten. Ihr soll ein am Neustädter Markt am Ende der Augustusbrücke von der Stadt geplantes Hotel dienen, das vor kurzem Gegenstand eines Wettbewerbes war. Unter den preisgekrönten Entwürfen ragen die Arbeiten von Radgar Hedlund und Kurt Bärbig hervor. Es ist der erste große Neubau nach dem Kriege, der, an bevorzugter Stelle im Stadtbild gelegen, der künftigen Entwicklung die Richtung zu weisen berufen erscheint. Die Baustelle liegt dem Blockhause gegenüber, an einer der großartigsten Raumschöpfungen internationaler Städtebaukunst des Barock. Als Zielpunkt der Brücke zieht Bärbig einen schlanken, hohen Turm über den Bürgersteig vor. Dieser Turm widerspricht dem ursprünglichen Baugedanken mit seiner Raumfolge von der Brücke zum Markt und zur Hauptstrasse und andererseits dem Ausblick vom Markt zum Zwillingspaar von Schloss- und Hofkirchenturm jenseits der Elbe. Deshalb werden die Entwürfe in ein großes Gipsmodell der Stadt eingetragen, um von der Entscheidung über die Ausführung die möglichen Folgen genau zu prüfen. Denn jede Zeichnung gibt nur eine Blickrichtung wieder, während der Städtebau mit vielen Blickrichtungen und mit den Wechselbeziehungen von nah und fern rechnen muss. Hoffentlich ist diese Gewissenhaftigkeit vorbildlich für die Zukunft. Aus ihr spricht das Verantwortungsbewusstsein für die Fortbildung der bodenständigen Kultur: ein Verfahren, das grundsätzlich bei jedem Bauvorhaben durchgeführt werden müsste. Denn Städtebau ist nicht nur Befriedigung eines Gegenwartsbedürfnisses. Es ist Verantwortung gegen die Vergangenheit und Zukunft. Als Vergleichsmaßstab für unser neuen Zielen zugewandtes Schaffen sind die erhaltenen Reste der Vergangenheit von höchstem Wert, wie die Aufstellung des von Richard Konviarz vorbildlich geleiteten Denkmalamtes der Stadt veranschaulicht. Zur gerechten Wertung des bisher in Dresden Geplanten und Erreichten dienen überdies Pläne der Städte Berlin, Leipzig, Chemnitz, Plauen, Neustadt i.S., Friedrichshain und Nordhausen in Thüringen.

Als Endergebnis des großen Ideenschau steht neben dem erwähnten allgemeinen Verlangen nach Erhaltung und Bereicherung der historischen Stadtsilhouette die Forderung nach einer in allen Richtungen gleich starken Raumgliederung der Straßenzüge, die nicht nur imstande ist, allen künftigen Verkehrsanforderungen zu genügen, sondern darüber hinaus dem organischen Lebensrhythmus der Stadt entspricht, so dass sich unabhängig vom nie endenden Wandel der künstlerischen Ausdrucksformen die Kinder unserer wie künftiger Tage mit den Zeugen vergangener Kultur zu harmonischem Bunde vereinen.



 


Der Autor:

Otto Schubert (1878-1968)

Tätigkeit: o. Prof. für Bauformenlehre

Vita:

1897-1902 Studium der Architektur an der TH Dresden;
1906 Regierungsbaumeister in Sachsen;
1909-1910 freischaffender Architekt in Dresden;
1910-1953 an der TH Dresden;
1910 Assistent,
1919 plm. a.o. Prof. f. Kunst der Straße;
1940 aus politischen Gründen entlassen;
1945 a.plm. Prof. f. Geschichte der Baukunst und Direktor der Sammlung f. Baukunst;
1946 prof. f. Entwerfen von Hochbauten und Bauformenlehre und Direktor d. gleichnamigen Sammlung;
1947 Prof. f. Bauformenlehre;
1953 Emeritierung.

Textquelle: www.ua.tu-dresden.de



Die Architekturzeitschrift Bauwelt

existiert sein 1920 kontinuierlich in Deutschland, auch während der Nazizeit. 1946 wurde sie unter dem Titel "Neue Bauwelt" - mit demokratischer Ausrichtung umgestaltet. Allerdings fand die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die eigene Verstrickung des Blattes in die Ideologie des Dritten Reiches anfangs nur sehr zögerlich statt.
Ihren Sitz hatte sie damals in Berlin Tempelhof (Amerikanischer Sektor des besetzten Berlins, Westzone). In Zeiten der provisorischen Bundesrepublik West wurde die Zeitschrift wieder in Bauwelt rückbenannt und berichtete, verstärkt durch den Kalten Krieg und Mauerbau, vorrangig aus dem alten Bundesgebiet und dem ehemaligen Westeuropa.

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